Wort halten

Die EU sollte mit Nordmazedonien und Albanien Beitrittsverhandlungen beginnen. Eine Garantie für eine Mitgliedschaft sind sie nicht. Warum, erläutert Nils Schmid in einem Namensbeitrag für das ipg-Journal.

Die Europäische Union hätte in diesen Tagen allen Grund zum Feiern: mit Nordmazedonien und Albanien haben zwei Staaten gezeigt, dass allein die Aussicht auf EU-Beitrittsverhandlungen Motivation genug sein kann, um weitreichende und sogar schmerzhafte Reformen umzusetzen. Im Falle Nordmazedoniens haben die Regierung und das Parlament sogar den Landesnamen geändert, um einen fast dreißigjährigen Konflikt mit Griechenland zu beenden. Besonders junge Menschen unterstützen in beiden Ländern eine EU-Mitgliedschaft mit überwältigender Mehrheit – in Albanien sind es 95 Prozent, in Nordmazedonien 81 Prozent. Sie identifizieren sich in hohem Maße mit Europa.

Die EU könnte also stolz sein auf ihre Attraktivität und ihre konkrete Gestaltungsmacht in diesen Ländern. Sie könnte zuversichtlich und selbstbewusst auf die anstehenden Beitrittsverhandlungen blicken: Wenn schon im Vorfeld derartige Veränderungen gelingen, was muss dann erst möglich sein, wenn es tatsächlich um die Aufnahme in die EU geht?

Stattdessen tun sich einige Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und auch die CDU/CSU-Fraktion im Deutsche Bundestag schwer damit, den Weg zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen frei zu machen. Vor einigen Tagen wurde die Entscheidung in den Oktober 2019 verschoben. Das widerspricht eigenen Ankündigungen im Europäischen Rat Mitte 2018. Es steht auch im Widerspruch zur EU-Kommission. Das ist insbesondere mit Blick auf Nordmazedonien bedauerlich. Das Zaudern schadet sowohl der EU als auch der Zukunftsperspektive beider Beitrittskandidaten.

Gewiss, Nordmazedonien und erst recht Albanien haben noch einen weiten und mühsamen Weg vor sich, bevor sie im Erfolgsfall der EU beitreten können. Dies gilt ganz besonders für die Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Bekämpfung von Korruption und Organisierter Kriminalität. Alle Staaten des Balkans sind der Versuchung autoritären Regierens ausgesetzt. Hier gilt es, die Rolle der Parlamente und ihre Kontrollfunktionen zu stärken. Das Phänomen des Parlamentsboykotts muss notfalls auch unter EU-Vermittlung beendet und eine einseitige Vetoposition der Boykottparteien vermieden werden.

Bei der anstehenden Entscheidung geht es ausdrücklich nicht um die Aufnahme in die EU, sondern um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Das ist ein großer Unterschied.

Bei der anstehenden Entscheidung geht es ausdrücklich nicht um die Aufnahme in die EU, sondern um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Das ist ein großer Unterschied. Doch zuletzt wurde beides in der Debatte häufig auf derart fahrlässige Weise miteinander vermischt, dass man dahinter fast schon Absicht erkennen mag. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ist gerade zum jetzigen Zeitpunkt sehr wichtig und dies aus mehreren Gründen:

1. Die aktuelle Gestaltungsmacht der EU in diesen Ländern ist nicht unendlich. Sie steht und fällt damit, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten glaubwürdig und verlässlich zu ihren eigenen Versprechen stehen. Diese reichen zurück in das Jahr 2003, als der Europäische Rat von Thessaloniki den Staaten des Westbalkans eine Beitrittsperspektive gab.

2. Beitrittsverhandlungen verleihen der EU die Legitimität und zusätzliche Instrumente, die Entwicklungen in den betreffenden Ländern noch deutlich stärker zu beeinflussen, um sie für einen möglichen Beitritt fit zu machen.

3. Die EU gibt der Bevölkerung eine konkrete Zukunftsperspektive. Denn derzeit handeln viele junge Menschen des Westbalkans wegen der wahrgenommenen Perspektivlosigkeit vor Ort nach dem Motto: „Wenn die EU nicht zu uns kommt, kommen wir zu ihr.“

4. Die EU sendet ein klares Signal an die Regierungen der Beitrittskandidaten, dass sich politischen Reformen und Anstrengungen lohnen; sie stärkt so europafreundliche reformbereite Kräfte.

5. Sollten die EU und ihre Mitgliedsstaaten trotz der insbesondere im Falle von Nordmazedonien beachtlichen Fortschritte nicht den Weg für Beitrittsverhandlungen in naher Zukunft frei machen, dann besteht die Gefahr wachsender Instabilität. Niemand dürfte sich wundern, wenn sich die Menschen und Regierungen von der EU ab- und stattdessen China und Russland zuwenden.

Beitrittsverhandlungen sind kein Selbstläufer. Es ist wichtig, nicht den Eindruck entstehen zu lassen, es gäbe einen Automatismus zwischen Beitrittsverhandlungen und einem Beitritt.

Beitrittsverhandlungen sind allerdings auch kein Selbstläufer. Es ist wichtig, nicht den Eindruck entstehen zu lassen, es gäbe einen Automatismus zwischen Beitrittsverhandlungen und einem Beitritt. Denn darunter würde die Akzeptanz in Deutschland und anderen EU-Staaten ebenso leiden wie die Bereitschaft zu konkreten Veränderungen vor Ort. Die EU muss strenge Bedingungen festlegen, einfordern und überprüfen. Zentrale Bereiche wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sollten Priorität genießen und von Beginn an auf der Agenda der Beitrittsverhandlungen stehen. Dies erfordert von der EU ebenso wie von den Regierungen und Parlamenten der EU-Mitgliedsstaaten politische Führung und Präsenz. Und falls einmal erreichte Errungenschaften wieder in Frage gestellt würden, dann sollten Beitrittsverhandlungen auch unterbrochen oder im Extremfall sogar abgebrochen werden können. Klar ist: Wenn Nordmazedonien und Albanien nach einem vermutlich mehrere Jahre dauernden Prozess der EU beitreten sollten, dann werden sich diese Länder sehr deutlich von ihrer heutigen Realität unterscheiden.

Bundeskanzlerin Merkel hat in den vergangenen Monaten und Jahren viele richtige Entscheidungen in Bezug auf die westlichen Balkanstaaten getroffen. Ihre Reise nach Skopje Ende letzten Jahres, wenige Tage vor dem mazedonischen Verfassungsreferendum zum Namensstreit, wurde als klares Signal gewertet. Jetzt muss sie auch die Skeptiker in den eigenen Reihen und in der EU überzeugen, den Weg zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen für Nordmazedonien und Albanien freizumachen. Andernfalls verspielt die EU ihre Glaubwürdigkeit in diesen beiden Ländern. Dann brauchen wir gar nicht erst über die „Weltpolitikfähigkeit“ der EU an anderer Stelle zu sprechen.

Nils Schmid, veröffentlicht im ipg-Journal am 20.06.2019