Nicht gegen China, sondern für Demokratie – ein transatlantischer Ansatz

Im Rahmen der Publikationsreihe Transatlantische Impulse beleuchtet Nils Schmid in einem Beitrag seine Vorstellung eines transatlantischen Ansatzes für den Umgang mit China und für den Kampf für die Demokratie.

Im Juli feiert die mitgliederstärkste Partei der Welt ihren 100. Geburtstag. Während die Pandemie auch dann noch viele Weltregionen fest im Griff haben wird, muss niemand befürchten, dass die Jahrhundertfete der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) mit ihren fast 92 Millionen Mitgliedern ein Superspreader-Event wird – denn China hat Corona weitestgehend unter Kontrolle. Und um sicherzustellen, dass an der Erfolgserzählung von der Eindämmung der Pandemie auch keinerlei Zweifel aufkommen, wird die gut geölte chinesische Propagandamaschine in den nächsten Wochen auf Hochtouren laufen. Aufgrund der vermeintlich erfolgreichen Corona-Bekämpfung genießt die KPCh großen Rückhalt in der Bevölkerung. Zentrum der Partei und auf dem Zenit seiner Macht steht Xi Jingping, der Staatspräsident des bevölkerungsreichsten Landes der Welt, welches das westliche Regierungs-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem fundamental herausfordert. 

Ende der Illusionen Im Juli sollte auch daran erinnert werden, dass US-Präsident Richard Nixon vor einem halben Jahrhundert die Weltöffentlichkeit mit der Ankündigung seiner Chinareise überraschte, mit der er die Grundlage für die nachfolgende Öffnungspolitik legte. Sie verfolgte auch den Zweck, die beiden kommunistischen Widersacher, China und die Sowjetunion, gegeneinander auszuspielen. Insbesondere nach dem Ende des Kalten Krieges war die Chinapolitik des Westens mit der Hoffnung verbunden, dass auf eine verstärkte Einbindung Chinas in die Weltwirtschaft und eine ökonomische Liberalisierung des Landes auch mehr politische und gesellschaftliche Freiheiten folgen würden.

Heute ist die Konvergenzthese ‚Wandel durch Handel‘ vorläufig widerlegt, denn der illusionslose Blick auf China zeigt einen zunehmend perfektionierten Überwachungsstaat, der immer aggressiver seine Interessen nach außen vertritt. Die Entwicklung Chinas verschärft den Großmächtekonflikt mit den USA und treibt die Bipolarisierung des internationalen Systems voran. Zur Verteidigung westlicher Werte und Interessen und zur Vermeidung einseitiger Abhängigkeiten unter diesen geopolitischen Realitäten braucht es ein souveränes Europa, das auf der internationalen Bühne mit einer Stimme spricht. Leider wird dies oftmals durch die Blockadehaltung einzelner EU-Mitgliedsländer verhindert, etwa als Ungarn sich gegen eine gemeinsame Erklärung zur Wahlrechtsreform in Hongkong stellte. Die EU muss deshalb auch in der Außenpolitik handlungsfähiger werden und dafür qualifizierte Mehrheitsentscheidungen einführen.

Klar ist auch, Deutschlands feste Verankerung in der transatlantischen Sicherheits- und Wertegemeinschaft ist die Grundlage für einen politischen Dialog mit Peking auf Augenhöhe. Mit der Biden-Administration eröffnet sich nun die Chance, gemeinsam dem Einfluss von autoritären Staaten wie China etwas entgegenzusetzen und der liberalen Demokratie in der PostCorona-Welt wieder zu globaler Strahlkraft zu verhelfen.

Zurecht bezeichnete US-Außenminister Blinken China in einer Grundsatzrede als „größte geopolitische Prüfung des 21. Jahrhunderts“. Für den Umgang mit China folgerte er daraus folgende Formel: „Das Verhältnis der Vereinigten Staaten mit China wird konkurrierend sein wenn nötig, kooperativ wenn möglich – und gegnerisch, wenn es sein muss. Der gemeinsame Nenner dabei ist die Notwendigkeit, China aus einer Position der Stärke heraus zu begegnen.“

Damit nähern sich die Ansätze der aktuellen US-Regierung und der EU an, nach denen China nicht nur ein Partner und wirtschaftlicher Wettbewerber ist, sondern auch ein systemischer Rivale. Leider bekam man in den vergangenen Jahren den Eindruck, dass der Blick nach Fernost im Kanzleramt im Wesentlichen von wirtschaftlichen Interessen geprägt war und deshalb die Dimension der chinesischen Herausforderung nicht in ihrer ganzen Breite erkannt wurde.

Corona – Katalysator im Systemwettbewerb

Die Pandemie ist eine Menschheitsaufgabe, die nur mit und nicht gegen China bewältigt werden kann. Von Wuhan in die Welt – die rasend schnelle Ausbreitung von Covid-19 hat gezeigt, wie eng unsere Schicksale miteinander verflochten sind. Aufgrund dieser wechselseitigen Abhängigkeit sollten alle Staaten ein Interesse an mehr Kooperation bei der Pandemiebekämpfung haben. Denn die gefährlichen Mutationen, die sich von Hochinzidenzgebieten aus über den Globus verteilen, zeigen, dass niemand sicher ist, solange der Virus in anderen Weltregionen weiterwütet.

Die Bilder, die letztes Jahr von der Pandemie-Politik des Westens um die Welt gingen, heizten die Debatte darüber an, welche Vor- und Nachteile das Modell eines demokratischen Rechtsstaats mit freier Marktwirtschaft gegenüber der chinesischen Ein-Parteien-Diktatur mit gelenkter Staatswirtschaft hat. Im Rahmen ihres 100. Geburtstags wird die KPCh die Erfolge des chinesischen Entwicklungsmodells mit aller Kraft in die Welt hinaustragen. Im Zentrum dieser Erzählung stehen die ca. 700 bis 800 Millionen Menschen, die China im Lauf der Jahrzehnte aus der extremen Armut befreite; der Aufstieg zur bald stärksten Wirtschaftsmacht; die Eindämmung der Pandemie und die vermeintlich selbstlose Impfdiplomatie. Diesem Narrativ muss mit Aufklärung begegnet werden, und die schwerwiegenden Defizite des chinesischen Systems gehören aufgezeigt. Vor allem muss Deutschland gemeinsam mit den USA und anderen Demokratien die besseren politischen Antworten liefern. Der Systemwettbewerb entscheidet sich an der Qualität unserer Demokratie zuhause und der Innovationskraft sowie dem sozialen Zusammenhalt unserer offenen Gesellschaft.

Statt Impfnationalismus muss auf Impfmultilateralismus gesetzt werden, denn nur so kann weltweit eine schnelle und gerechte Verteilung der Impfstoffe gewährleistet werden. Und nur dann ist eine glaubwürdige Kritik der chinesischen Impfdiplomatie möglich, die sich von nationalen Interessen statt von humanitären Prinzipien treiben lässt. Die bisherige Unterstützung für das globale Impfprogramm COVAX sollte deshalb weiter ausgebaut werden.

Zu Beginn der Pandemie zeigte sich auch, wie verwundbar Deutschland und Europa durch einseitige Abhängigkeiten bei lebensnotwendigen Medizingütern sind. Immer lauter wurden in den letzten Monaten Forderungen nach einer Entkopplung von China – auch aus Washington. Ein vollständiges Decoupling der Wirtschaftsund Technologiesphären der zwei größten Volkswirtschaften wäre fatal, nicht nur für unsere deutsche Exportwirtschaft. Das Ziel sollte vielmehr sein, dort Interdependenzen zu fördern, wo durch wechselseitige Abhängigkeiten gemeinsame Interessen entstehen. Zudem müssen asymmetrische Abhängigkeiten in kritischen Bereichen beendet werden, etwa durch eine Diversifizierung unserer Beziehungen, wie in den Indo-Pazifik-Leitlinien vorgesehen.

Mehr internationale Zusammenarbeit und Solidarität unter Demokratien

Die enge Kooperation mit Demokratien wird in Zeiten der Systemrivalität noch wichtiger, auch mit Staaten außerhalb der transatlantischen Familie. Deshalb ist es begrüßenswert, dass beim G7-Treffen in Cornwall auch Gäste aus Südkorea, Südafrika und Australien dabei waren sowie virtuell aus Indien. Der Biden-Besuch in Europa sendete insgesamt ein starkes Signal der Einigkeit des Westens in die Welt und trieb wichtige Zukunftsprojekte voran, wie eine globale Infrastruktur-Initiative als demokratischen Gegenentwurf zu Pekings „Neuer Seidenstraße“.

Die transatlantische Gemeinschaft und ihre demokratischen Partner stehen gut da im Systemwettbewerb, da sie über enorme wirtschaftliche, militärische und diplomatische Fähigkeiten verfügen. Ein entscheidender Trumpf ist auch die internationale Solidarität bei Menschenrechten und Demokratie sowie ein glaubwürdiger Einsatz für internationales Recht.

Beim Thema Menschenrechte gilt, dass die gravierenden Missstände in China umso überzeugender kritisiert werden können, je besser Deutschland, Europa und die USA selbst dastehen. Und da gibt es noch viel zu tun, wie etwa der strukturelle Rassismus auch in westlichen Staaten zeigt. Aufgrund der schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang, der Inhaftierung von über einer Million Uiguren*innen, war es richtig, dass die EU mit Sanktionen gegen Verantwortliche in China reagierte. Wichtig war auch, dass nicht nur die EU allein China sanktionierte, sondern sich Kanada, die USA und das Vereinigte Königreich anschlossen. Der chinesische Gegenschlag kam unmittelbar und traf gewählte Abgeordnete und unabhängige Forscher mit dem Ziel, kritische Stimmen mundtot zu machen. Aufgrund dieser Reaktion wird es nun erstmal seitens der EU keine Ratifizierung des umfassenden Investitionsabkommens geben.

Die universelle Gültigkeit der Menschrechte verpflichtet dazu, Menschenrechtsverletzungen weltweit anzuprangern und dagegen vorzugehen. Deshalb war es richtig, dass bei der Aktivierung des EU-Menschenrechtsregimes Strafmaßnahmen nicht nur gegen Funktionäre aus China verhängt wurden, sondern auch gegen Personen aus zum Beispiel Nordkorea und Russland. Und es sind auch die Vereinten Nationen, unter deren Dach eine Untersuchungskommission zur Situation in Xinjiang eingerichtet werden muss.

Auch beim 5G-Ausbau war Deutschlands Ansatz richtig, kein Huawei-Verbot zu erlassen, sondern eine politische Vertrauenswürdigkeitsprüfung einzuführen, durch die auch Anbieter aus anderen Staaten ausgeschlossen werden können. Zusammen mit den USA und anderen Partnern gilt es jetzt, Unternehmen aus demokratischen Staaten zu unterstützen, damit diese die Kommunikationsnetze der Zukunft sicher und kostengünstig ausbauen können.

Es gilt die Stärke des Rechts und nicht das Recht des Stärkeren. Auch China ist an internationale Regeln gebunden und muss mit robusten Reaktionen rechnen, wenn es im Südchinesischen Meer Seerecht bricht. Der chinesischen Führung muss klar sein, dass die westliche Gemeinschaft auch zukünftige Eingriffe in Hongkongs Autonomie und militärische Drohgebärden gegenüber Taiwan nicht akzeptieren wird. Klar ist aber auch, dass die Beziehungen zu China nicht allein durch die Brille der Systemrivalität betrachtet werden dürfen. Es sollte klar kommuniziert werden, dass sich die Politik des Westens nicht per se gegen China und seine Bevölkerung richtet, sondern gegen politische Entscheidungen, auf die konkrete Antworten geliefert werden. Die westlichen Staaten stellen sich unmissverständlich gegen antichinesische Ressentiments, die sich leider auch in Deutschland verbreiten. Und die Hand zur Kooperation muss ausgestreckt bleiben, wie bei der Bekämpfung der Klimakrise, die nur gemeinsam bezwungen werden kann.

Verteidigung der Demokratie beginnt zuhause

Der Vorschlag von US-Präsident Biden, einen weltweiten Gipfel für Demokratie zu organisieren, verdient Unterstützung. Denn die stärksten Waffen gegen Autoritarismus sind die eigenen Erfolge und deren Strahlkraft – ein effektiver demokratischer und sozialer Rechtsstaat, wirtschaftlicher Wohlstand und ein solidarisches Miteinander. Die weltweite Verteidigung der Demokratie beginnt deshalb zuhause. Unter Trump ließ die demokratische Strahlkraft der USA stark nach und drohte in den dunklen Stunden während des Sturms auf das Kapitol völlig zu erlöschen. Die Biden-Administration hat vom ersten Tag an begonnen, den Trend umzukehren. Insbesondere das milliardenschwere Investitions- und Arbeitsbeschaffungsprogramm von Joe Biden könnte dazu beitragen, die massiven sozialen Verwerfungen zumindest teilweise zu überwinden, den innergesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und damit die USA wieder zu einem „Leuchtturm der Demokratie“ zu machen.

Gegen den autokratischen Einfluss von außen, der die Polarisierung innerhalb westlicher Gesellschaften vertiefen will, braucht es eine Allianz der Demokratien gegen Desinformation und Cyberangriffe. Die Gesellschaften müssen besser geschützt werden, etwa durch bessere Digitalbildung. Gemeinsam müssen aber auch die tieferliegenden Ursachen für demokratische Rückschritte angegangen werden, wie die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Die staatlichen Hilfen in der Pandemie und die notwendigen Zukunftsinvestitionen in die Digitalisierung und den sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft belasten die Staatsfinanzen. Verstärkte Kooperation beim Kampf gegen Korruption und Steueroasen gehören aber nicht nur deshalb ganz oben auf die transatlantische Agenda, sondern vor allem aufgrund der zentralen Bedeutung, die der gemeinsame Einsatz für mehr Gerechtigkeit hat. Ein wichtiges Flaggschiffprojekt der transatlantischen Zusammenarbeit ist deshalb die beim G7-Treffen vereinbarte globale Mindeststeuer für Unternehmen, deren Umsetzung nun zügig vorangetrieben werden muss.

Nils Schmid ist seit September 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages. Er ist ordentliches Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und seit 2018 außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Diese Publikation ist im Rahmen der Initiative Transatlantische Impulse veröffentlicht worden und stellt einen persönlichen Meinungsbeitrag dar. Sie kann hier auf Deutsch und hier auf Englisch in Form eines PDF-Dokuments heruntergeladen werden.