So können wir die demokratischen Kräfte in Belarus stärken

Vor genau einem Jahr fand in Belarus die Präsidentschaftswahl statt. In einem Gastkommentar erschienen in der Printausgabe der Welt und in der französischen Le Monde schreiben der Abgeordnete Frederic Petit und Nils Schmid dazu, wie die demokratischen Kräfte nun langfristig unterstützt werden können.

Vor genau einem Jahr fand in Belarus die Präsidentschaftswahl statt. Nach einem Wahlkampf, bei dem sich Präsident Alexander Lukaschenko plötzlich drei Frauen gegenüber sah, die sich voller Entschlossenheit gegen seine Lügenpropaganda verbündet hatten, wurden die Wahlergebnisse unverzüglich und ganz offen gefälscht.

Seitdem werden täglich Belarussinnen und Belarussen festgenommen, gefoltert und in absurden Verfahren zu Unrecht verurteilt. Journalistinnen und Journalisten werden mundtot gemacht und ins Exil getrieben. Medienhäuser schließen und verschwinden vermutlich für immer.

Seit einem Jahr vergeht kein Tag, an dem nicht ein, zwei Personen in Belarus zur Zielscheibe von Angriffen des Regimes werden und sich in die lange Liste politischer Gefangener einreihen. Seit einigen Monaten kommt ein neues Phänomen hinzu: Die Suizidrate steigt - und das nicht nur in den Gefängnissen, sondern auch außerhalb, unter belarussischen Bürgerinnen und Bürgern aller Altersstufen und Gesellschaftsschichten. Alexander Lukaschenko hat der Europäischen Union offen den Kampf angesagt. Als "Antwort" auf die europäischen Sanktionen drohte der belarussische Tyrann, "Migranten, die Mafia und Drogen" zu schicken. Das Regime organisiert quasi offiziell die Beförderung von Asylsuchenden aus dem Nahen Osten an die litauische Grenze (und lässt sich diesen "Dienst" natürlich bezahlen, ganz wie es sich für Schleuser gehört). Binnen weniger Wochen stieg so die Zahl der Asylsuchenden in unserem Partnerstaat Litauen von gut hundert auf mehr als 1700. Für einen solch massiven Ansturm war das Land trotz der von ihm unter Beweis gestellten großen europäischen Solidarität in diesem Bereich kaum gewappnet. Das Regime von Alexander Lukaschenko verstrickt sich immer mehr in eine verzweifelte, fast schon selbstzerstörerische Suche nach immer aggressiveren und verheerenderen Vergeltungsmaßnahmen. Angesichts dieser Gefahr für die Stabilität unseres Kontinents kann Europa nicht allein auf Sanktionen setzen, auch wenn diese zu befürworten sind und an die Situation angepasst werden. Die Maßnahmen können zwar auf lange Sicht Früchte tragen, aber auch dafür sorgen, dass Russland zum letzten Rettungsanker für Lukaschenko wird. Wir müssen jetzt die demokratischen Kräfte im Exil unterstützen, die sich im Koordinierungsrat zusammengeschlossen haben, dem unter anderem Swetlana Tichanowskaja, Pawel Latuschko, Maria Kolesnikowa und die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch angehören. Die Unterstützung dieser belarussischen Demokratinnen und Demokraten kann und muss über eine Form der Diplomatie erfolgen, die von einigen als "soft" bezeichnet wird, die jedoch durchaus hart sein kann:

Dazu zählt die Wissenschaftsdiplomatie. So bildet Frankreich bereits künftige belarussische Führungskräfte in Warschau aus. Die belarussische Universität Vilnius, die bereits seit 15 Jahren auf europäischem Boden präsent ist, sollten wir noch enger mit unseren Forschungseinrichtungen und -zentren vernetzen. Aktuell wird an einem Projekt zur Gründung einer Osteuropäischen Universität für im Exil lebende Lehrkräfte und Studierende gearbeitet. Dazu gehört auch die Unterstützung unabhängiger Medien und Journalisten, von denen viele auf europäischem Boden angesiedelt sind. Erst kürzlich hat das Lukaschenko-Regime den Sender Bielsat als "extremistisch" eingestuft.

Schließlich kann auch die parlamentarische Diplomatie in dieser Krise eine Rolle spielen. Wir sollten dem Vorbild polnischer und litauischer Abgeordneter folgen, die seit Langem offizielle Kontakte zur Opposition pflegen und die Kontakte zum offiziellen Parlament auf Eis gelegt haben. Um uns gemeinsam für die Demokratie in Belarus einzusetzen, schlagen wir vor, im Herbst eine interparlamentarische Konferenz in Vilnius auszurichten, um die breite Unterstützung des Europäischen Parlaments und der nationalen Abgeordneten für das belarussische Volk zu unterstreichen. Insbesondere muss sich jedoch die europäische Zivilgesellschaft des Themas annehmen - ganz so, wie es viele von uns zu Zeiten von Solidarnogd getan haben.

In der Krise in Belarus steht die Zukunft des "äußersten Randes" der Europäischen Union auf dem Spiel, in einer Region zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer. Hier wird die Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union definiert. Das müssen wir gemeinsam tun, als aufgeklärte Bürgerinnen und Bürger, und dürfen dabei nicht wegschauen. 600 politische Gefangene fristen derzeit ihr Dasein in belarussischen Gefängnissen - vor den Toren der EU. Sie dürfen wir nicht vergessen!

Frederic Petit ist Abgeordneter für Auslandsfranzosen der Fraktion Modem in der Assemblée nationale, der französischen Nationalversammlung. Nils Schmid ist Abgeordneter der SPD-Fraktion im Bundestag und Sprecher für Außenpolitik. Beide sind Mitglied des Vorstands der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung (DFPV). Die deutsche Fassung dieses Artikels erschien am 09. August auf der zweiten Seite der gedruckten "Die Welt"-Ausgabe. Die Le Monde veröffentlichte diesen auf Französisch in ihrer Onlienausgabe. Der Artikel auf lemonde.fr unter https://www.lemonde.fr/idees/article/2021/08/09/le-soutien-aux-democrates-bielorusses-peut-et-doit-passer-par-une-diplomatie-ferme_6090990_3232.html