Machtwechsel in Nordmazedonien „verheerende Nachricht für Europa“

Der Rücktritt des nordmazedonischen Regierungschefs ist „ein schwerer Schlag“ für das europäische Projekt auf dem Balkan, sagt Nils Schmid, der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion im Interview mit dem Vorwärts. Er fordert ein Ende der Beitrittsblockade in der EU.

Der Rücktritt des pro-europäischen Ministerpräsidenten Nordmazedoniens, Zoran Zaev, der den Namensstreit mit Griechenland beendete und das Land Richtung EU führen wollte, ist keine gute Nachricht für Europa, oder?

Nein. Dies ist eine verheerende Nachricht für Europa. Bei der Lösung des jahrzehntelangen Namensstreits mit Griechenland hat Zoran Zaev Verhandlungsgeschick und politischen Mut bewiesen. Zurecht wurden er und sein damaliger Amtskollege Tsipras mit zahlreichen internationalen Würdigungen bedacht. Zaevs Rücktritt ist daher nicht nur eine schlechte Nachricht für die Reformbemühungen, welche er als Sozialdemokrat in Nordmazedonien angestoßen hat; sondern auch eine schlechte Nachricht für die Zukunft des europäischen Projekts. Nordmazedonien ist in seiner Regierungszeit zu einem positiven Gegenmodell in einer zunehmend autokratisch regierten Region geworden.

Trotz der vereinbarten Kompromisse, allen voran der Namensänderung des Landes, konnte er aus Gründen, die er nicht selbst zu verantworten hat, keine substanziellen Fortschritte beim EU-Beitrittsprozess vorweisen. Der offizielle Beginn von EU-Beitrittsgesprächen steht weiterhin aus. Dies macht es allen künftigen Entscheidungsträger*innen noch schwerer, für unpopuläre, aber politisch notwendige Kompromisse zu werben und zu kämpfen. Ich persönlich würde mir wünschen, dass Zoran noch einmal seine Entscheidung überdenkt, und zumindest als Regierungschef uns als Partner erhalten bleibt. Ein politisches Mandat hierfür hat er erst im Januar 2020 errungen. 

Zaev geriet wegen seines Pro-Europa-Kurses in seinem Land in die Kritik, als die von ihm angestrebten Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien von den EU-Staats- und Regierungschefs abgelehnt wurden. Tragen sie Mitverantwortung für Zaevs Scheitern?

Jedes Land hat seine berechtigten innenpolitischen Anliegen. Aber ich hoffe sehr, dass sich die französische Politik gegenüber den Westbalkanstaaten nach den Präsidentschaftswahlen im nächsten Frühjahr wieder auf die Zusagen, die wir diesen Ländern gegeben haben, besinnt. Kein Verständnis habe ich, wenn ein Land, wie Bulgarien aus nationalistischen Motiven seit rund zwei Jahren den Beginn der EU-Beitrittsgespräche blockiert. Damit haben sie sich allerdings ein Eigentor geschossen. Dies ist ein fatales Signal für die Glaubwürdigkeit der EU in der Region. Zoran Zaev hat sein politisches Wirken in den Dienst der EU-Annäherung gestellt. Dies wurde nicht von allen angemessen honoriert. Deshalb kann man sie von einer Mitverantwortung nicht ganz frei sprechen. Eine Verhandlungslösung wird in Zukunft nur ungleich schwerer zu erreichen sein.

Anders als Serbien hat Zoran Zaev bei der Bewältigung der Corona-Pandemie auf die EU gesetzt. Leider hat sein Land die Vakzine erst sehr spät erhalten und die Impfkampagne lief nur zögerlich. Die Menschen sind von der EU enttäuscht. Die Hoffnung verfliegt und die geringe Wahlbeteiligung ist ein schlechtes Vorzeichen für notwendige Reformen unabhängig von politischen Mehrheiten.

Zoran Zaev trat auch als Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei SDSM zurück. Wie ist das Verhältnis zur Schwesterpartei SPD?

Wir haben ein enges und vertrauensvolles Verhältnis. Die SDSM hat durch die „colorful revolution“ das autokratisch agierende Gruevski-Regime beendet und unter Zoran Zaevs Führung einen demokratischen Übergang gesichert. Zorans Rücktritt als Vorsitzender ist deswegen als Zäsur zu sehen. Vor dem Hintergrund unserer breiten Zusammenarbeit hoffen wir auf eine Fortsetzung der engen Beziehungen mit der/m künftigen Vorsitzenden.

Russland spielt auf dem Balkan eine immer stärkere Rolle – oft gegen die Interessen der EU gerichtet. Was bedeutet das für die Region und für Europa?

Russland versucht in der Tat, stärker auf einzelne Regierungen, aber auch auf gesellschaftliche Debatten und Konflikte einzuwirken. In einigen Fällen ist diese Politik durchaus erfolgreich, Gegner eines pro-europäischen Reformkurses zu stärken. Dennoch ist Russland auch auf absehbare Zeit nicht in der Lage, eine attraktive Alternative zur EU-Integration zu bieten. Die geopolitische Sichtweise, die den westlichen Balkan nur als Spielwiese auswärtiger Mächte sieht, teile ich deshalb nicht. Dennoch bedeutet dies für die EU: Je geringer die Anziehungskraft der EU-Annäherung ist, desto attraktiver sind Alternativen. Die Perspektive der EU-Integration verliert an Strahlkraft in der Region, weil die Menschen sie zunehmend für unerreichbar halten, nicht weil der Ruf Moskaus verlockender wirkt.

Braucht die EU eine neue Strategie für ihre Balkan-Politik?

Die Balkan-Politik scheitert derzeit nicht auf der strategischen, sondern auf der politischen Ebene. Um Partner in der Region davon zu überzeugen, die notwendigen Schritte zu den Anpassungen an die Werte, Institutionen und Regulierungen der EU vorzunehmen, braucht es im Gegenzug die Verlässlichkeit für die Verhandlungspartner, dass die EU ihre Versprechungen in all ihren Institutionen politisch auch umsetzen kann. Die effektive Lähmung des EU-Erweiterungsprozesses wird von weiten Teilen der Bevölkerung in der Region als Ungerechtigkeit empfunden und die Glaubwürdigkeit der EU als solche hinterfragt.

Entsprechend ist eine neue politische Dynamik in der Erweiterungspolitik gefragt. Die Ergebnisse vom Westbalkangipfel in Brdo sind ein erster guter Schritt, aber unzureichend. Der Rücktritt Zaevs ist ein schwerer Schlag nicht nur für die europäische Sozialdemokratie, sondern für die EU-Annäherung insgesamt. Wir dürfen die Enttäuschung gerade der jungen, europäisch-orientierten Generation, welche sich in fehlendem Rückhalt für sozialdemokratische, reformorientierte Politiker wie Zoran Zaev übersetzt, nicht unterschätzen.

Deutschland und andere Länder der EU müssen stärker darauf drängen, dass alle Mitglieder sich an beschlossene, politische Kriterien halten und nicht – wie jetzt Bulgarien – die gesamte EU-Erweiterungspolitik in Geiselhaft nehmen. Wenn, wie im Fall von Nordmazedonien und Kosovo, Fortschritte in der EU-Annäherung in Form von innerstaatlichen Reformen durchgeführt werden, müssen entsprechende Vereinbarungen auf unserer Seite eingehalten werden. Anders kann eine erfolgreiche Integration nicht gelingen.

Welche Rolle spielt die deutsche Außenpolitik bei der Anbindung der Balkan-Staaten an Europa und die EU?

Deutschland nimmt in zweierlei Hinsicht eine besondere Rolle bei der Integration der Balkan-Staaten ein. Zum einen genießen wir eine hohe Reputation und werden aufgrund unseres langjährigen Engagements als Verhandlungspartner und Mittler geschätzt. Mit dem Berlin-Prozess hat Deutschland ein wichtiges Format geschaffen, um regionale Kooperation und die EU-Integration voranzutreiben. Zum anderen sind auf der gesellschaftlichen Ebene durch die westdeutsche Politik der Anwerbung von Gastarbeitern zahlreiche kulturelle und familiäre Verbindungen entstanden. Diese Verbindungen sollten Ansporn sein, uns mehr für die Region einzusetzen. Dies bedeutet dann gegebenenfalls auch, stärker auf unsere Partner innerhalb der EU einzuwirken und für Unterstützung der EU-Erweiterungspolitik zu werben. Zaevs Rücktritt sollte für uns in dieser Hinsicht Warnsignal und Motivation zugleich sein, mehr zu tun.

Das Interview erschien online im Vorwärts: https://www.vorwaerts.de/artikel/spd-machtwechsel-nordmazedonien-verheerende-nachricht-europa