Starke Schicksalsgemeinschaft Europa

Normative Macht und geeinter Akteur, Werteanker des Westens und geoökonomischer Player: Ein souveränes Europa ist handlungsfähig und kooperativ. Dazu schreibt Nils Schmid im Magazin Internationale Politik.

Im September 2017 forderte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in seiner vielbeachteten Rede an der Sorbonne-Universität ein souveränes, geeintes und demokratisches Europa. Ein Europa, das sich als solidarische Schicksalsgemeinschaft versteht, die auf gemeinsame Grundwerte sowie ein gemeinsames Verständnis des sozialen und gesellschaftlichen Miteinanders aufgebaut ist. Schlüsselbegriff war die Stärkung der europäischen Souveränität. Die Europäische Union sollte künftig die ­Fähigkeiten besitzen, die eigenen Interessen und Werte eigenständig zu definieren und regelbasiert zu handeln. Es geht hierbei um nicht weniger als die politische Handlungsfähigkeit der Staatengemeinschaft im Binnen- als auch im Außenverhältnis.

Ein souveränes Europa verfolgt die Stärkung und den Schutz europäischer Werte und Interessen sowie die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der regelbasierten multilateralen Ordnung. Eine Stärkung der europäischen Souveränität beschränkt die Handlungsfähigkeit der Mitgliedstaaten nicht, sondern erhöht diese durch gemeinsames europäisches Handeln. Ein souveränes Europa verfügt zugleich über alle Instrumente, um seine Werte und Interessen vorzugsweise mit Verbündeten und Partnern, notfalls auch allein durchzusetzen. Grundlage ist ein umfassender Souveränitätsbegriff, der die selbstbestimmte Handlungsfähigkeit und Selbstbehauptung in der Außen- und Sicherheitspolitik genauso wie in wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und technologischen Belangen umfasst.

Die Grundwerte der EU und das Prinzip der Kooperation sind letztendlich die Basis für ein souveränes Europa. Unabdingbar ist in diesem Zusammenhang die europäische Integration. Die EU wird nur dann ihre Handlungsfähigkeit und Gestaltungskraft in der Außen- und Sicherheitspolitik ausbauen können, wenn sie es fertigbringt, die bestehenden Institutionen und die zur Verfügung stehenden Instrumente weiterzuentwickeln. Ein zentraler Baustein ist der EU-Ministerrat. Damit die EU künftig als starker internationaler Akteur besser wahrgenommen wird, muss ­dessen Handlungsfähigkeit durch effizientere Abstimmungsregeln verbessert werden.

Die Bewältigung der Corona-Pandemie stellt die bislang größte Herausforderung der EU dar. Diese Krise hat offen die innere und äußere Verletzbarkeit der Staatengemeinschaft deutlich werden lassen und die Notwendigkeit entschlossenen gemeinsamen Handelns sichtbar gemacht. Hierzu müssen die Mitgliedstaaten noch enger und koordinierter zusammenarbeiten. Die deutsch-französische Initiative für ein europäisches Wiederaufbaupaket ist in dieser Phase die richtige Antwort.

Die EU als normative Macht

Der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP hat dieses Konzept bewusst aufgenommen und bekennt sich zur strategischen Souveränität der EU. In den strategisch wichtigen Bereichen wie Energieversorgung, Gesundheit, Rohstoff­importe und digitale Technologie sollen die Abhängigkeit und Verwundbarkeit reduziert werden, um die Handlungsfähigkeit im globalen Kontext herzustellen, ohne den Kontinent abzuschotten.

Ziel ist die Stärkung der Souveränität Europas als normative Macht. Dazu müssen zuallererst die gemeinsamen Werte konsequent umgesetzt werden, denn sie sind die Leitprinzipien des eigenen Handelns gegenüber den Partnern. Nach innen müssen die europäischen Werte geschützt werden. Verletzungen der europäischen Grundwerte beziehungsweise der Versuch, den gemeinschaftlichen Wertekanon zu umgehen, müssen sanktioniert werden. Um das zu ermöglichen, bedarf es dringend eines wirksamen und effektiven Rechtsstaatsmechanismus, beispielsweise könnte daran die Auszahlung von Haushaltsmitteln der EU gekoppelt sein.

Ein souveränes Europa setzt zur Lösung von Krisen und Konflikten auf das Primat der Politik, Diplomatie und Dialog, zivile Krisenprävention und Konfliktbearbeitung, Demokratie- und Friedensförderung und einen kooperationsbasierten Multilateralismus. Dieser Ansatz findet sich im Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP.

Grundlegende Voraussetzung für eine frühzeitige und wirksame Prävention von Krisen und Konflikten ist aber auch, dass die Europäische Union, sofern es die Situation erforderlich macht, auch militärisch als geeinter und somit glaubwürdiger Akteur in friedens- und sicherheitspolitischen Fragen handelt. Notwendig sind entsprechende institutionelle Reformen sowie der politische Wille in den Mitgliedstaaten der EU.

Zentraler Bestandteil für das außenpolitische Handeln der EU sind die trans­atlantischen Beziehungen. Auch wenn das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Partnerschaft während der vierjährigen Amtsdauer von Präsident Donald Trump sehr gelitten hat, hat die Wahl von Joe Biden das Verhältnis zwischen den beiden Kontinenten wieder partnerschaftlich ausgerichtet. Der Wiedereintritt der USA zum Pariser Klimaabkommen sowie in den UN-Menschenrechtsrat sind ein klares Zeichen für die Unterstützung eines regel- und wertebasierten Multilateralismus.

Die Neujustierung der amerikanischen Außenpolitik in Richtung Pazifik macht jedoch deutlich, dass künftig mehr Anstrengungen erforderlich sind, um europäische Sicherheit aus eigener Kraft heraus garantieren zu können. Um das zu schaffen, müssen die EU-Mitgliedstaaten ausreichende Ressourcen bereitstellen, erforderlichen politischen Willen aufbringen und für eine entsprechende Koordinierung und Bündelung der bereitgestellten Fähigkeiten sorgen. Die Entwicklung und Einsatzbereitschaft militärischer Fähigkeiten müssen deutlich vorangebracht werden. Das zwischen Deutschland, Frankreich und Spanien geplante Luftkampfsystem (Future Combat Air System, FCAS) und der Kampfpanzer (Main Ground Combat System, MGCS) sind hierfür Beispiele. ­

Diese Projekte zur Sicherung der sicherheits- und verteidigungspolitischen Souveränität Europas stehen in keinem Widerspruch zur transatlantischen Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaft. Vielmehr sind sie die Voraussetzung dafür, dass die Einbettung in die trans­atlantische Allianz in Zukunft nicht einem Sachzwang der militärischen Abhängigkeit geschuldet ist, sondern Ausdruck eines wahrhaft souveränen europäischen Bekenntnisses zur trans­atlantischen Sicherheits- und Verteidigungspartnerschaft auf Basis gemeinsamer Werte.

Die Beziehungen zu Russland sind immer wieder von Rückschlägen und Problemen geprägt. Hierzu zählen beispielsweise Desinformationskampagnen oder militärische Drohgebärden, wie sie seit Wochen an der russisch-ukrainischen Grenze zu beobachten sind. Ein souveränes Europa wird viel geschlossener gegenüber Russland auftreten können. Den unterschiedlichen Bedrohungsperzeptionen ist Rechnung zu tragen, indem die Sorgen der osteuropäischen Partner ernstgenommen werden. Ziel muss daher eine europäische Ostpolitik sein, die den Fokus auf eine gemeinsame und kohärente EU-Politik gegenüber Russland legt. Ein souveränes Europa bietet Russland den ­Dialog an. Dies setzt aber gleichzeitig auch eine konstruktive Dialogbereitschaft seitens Russland voraus, um am Abbau von Spannungen zu arbeiten.

Dem Systemwettbewerb mit China muss die EU auch in Absprache mit den USA offensiv entgegentreten. Das kürzlich von der Europäischen Kommission vorgestellte Investitionsprogramm „Global Gateway“ ist hierfür der zentrale Baustein, um Schwellen- und Entwicklungsländer strategisch zu unterstützen. Für ein souveränes Europa gibt es im Umgang mit China ebenso Kooperationsfelder, die es konstruktiv und zum beiderseitigen Gewinn gestalten kann. Erforderlich ist ein gemeinsames europäisches Vorgehen, ­insbesondere in Fragen der Menschenrechte, der Handels- und Investitionspolitik sowie der Umwelt- und Klimapolitik. Die Mitgliedstaaten dürfen sich durch die Politik in Peking nicht auseinanderdividieren lassen. Nur eine souveräne europäische China-Politik ermöglicht differenzierte Antworten und Reaktionen für differenzierte Heraus­forderungen.

Es wird entscheidend darauf ankommen, ob es gelingt, die internationale Rolle des Euro auszubauen und die institutionelle Architektur und Governance-Struktur der Währungsunion weiterzuentwickeln. Damit soll das Vertrauen in die Stabilität der Eurozone gesichert werden. Das umfasst die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts, um mehr Investitionen zu ermöglichen, und die Vollendung der Banken-, Kapitalmarkt- und Fiskalunion. Dies kann einen integrierten und tiefen, das heißt liquiden europäischen Kapital- und Bankenmarkt schaffen und die finanzielle Fragmentierung innerhalb Europas auflösen. Nur wenn Unternehmen und Banken eine Alternative zur Finanzierung in US-Dollar haben, kann die außenpolitische Hebelwirkung dieses „exorbitanten Privilegs“ der USA gemildert werden und Europa seine Wirtschaftsbeziehungen zu Ländern wie Iran und Russland selbst gestalten. Künftig sollte der Öl- und Gashandel der EU mehr und mehr in Euro abgewickelt werden. Schließlich könnten die EU-Staaten ihre Hilfen für wirtschaftliche Zusammenarbeit in einer neuen Europäischen Entwicklungsbank oder bei einer der bestehenden Institutionen (EIB oder EBRD) bündeln. Dies alles würde die Souveränität Europas stärken.

Behaupten in der globalen Ökonomie

Ein souveränes Europa muss sich ebenfalls in der zunehmend von geopolitischen Interessen geprägten globalen Ökonomie behaupten können und seine eigenen ökonomischen Interessen sowie die Resilienz der wohlfahrtsstaatlichen Modelle seiner Mitgliedstaaten schützen. Notwendig hierfür sind die Entwicklung von globalen Standards, der Schutz von Schlüssel­industrien und kritischer Infrastruktur sowie der Ausbau eigener, insbesondere digitaler Kapazitäten.

Eine offene Volkswirtschaft wie die EU ist auch abhängig vom globalen Austausch von Gütern, Dienstleistungen, Kapital, Wissen und Technologien. In ihrem eigenen wirtschaftlichen Interesse ist sie daran interessiert, offen und mit internationalen Partnern in einer multilateralen Ordnung eng verbunden zu bleiben – unter Achtung und Verteidigung internationalen Rechts und dem Einsatz für fairen Wettbewerb und soziale Standards.

Technologieführerschaft im Bereich der Digitalisierung und Technologieentwicklung ermöglicht wirtschaftliche und soziale Gestaltung nach eigenen Regeln und das Aushandeln von fairen globalen Regeln auf Augenhöhe. Europäische Souveränität knüpft daher an das Lissabon-Ziel an, die Europäische Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftraum der Welt zu entwickeln.     

Dr. Nils Schmid ist Mitglied des Deutschen Bundestages und außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Von 2011 bis 2016 war er stellvertretender Ministerpräsident und Minister für Finanzen und Wirtschaft in Baden-Württemberg. Der Artikel erschien online auf www.internationalepolitik.de/de/starke-schicksalsgemeinschaft-europa. Eine PDF-Datei des Artikels kann direkt hier heruntergeladen werden.