Die Eigenständigkeit von Belarus stärken

Fremde Federn: Ein Artikel von Nils Schmid und Dirk Wiese in der FAZ.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo der Artikel  am 7. Mai 2020 erstmals publiziert wurde (Seite 10).

Belarus spielt seit mehr als zwei Jahrzehnten eine Sonderrolle auf dem europäischen Kontinent. Zuletzt hat der seit über 25 Jahren amtierende autokratische Herrscher Aleksandr Lukaschenka die Covid-19-Pandemie kurzerhand zu einer "Psychose" der internationalen Gemeinschaft erklärt und von entsprechenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens abgesehen. Wie lange das Land diesen Sonderweg noch durchhalten wird, ist indes fraglich.

Doch unabhängig von dieser aktuellen Frage kann es Deutschland und der EU nicht gleichgültig sein, wie es dem Land gelingen wird, seine Selbständigkeit zu bewahren.

In den neunziger Jahren war es Lukaschenka, der einen gemeinsamen Unionsstaat mit Russland vorantrieb. Dieser sah eine gemeinsame Währung, eine koordinierte Außen- und Sicherheitspolitik sowie ein Unionsparlament und eine gemeinsame Unionsregierung vor. Russland lag damals politisch und wirtschaftlich am Boden, während sich Präsident Lukaschenka politischer und wirtschaftlicher Stabilität in seinem Land rühmen konnte.

Doch längst haben sich die Kräfteverhältnisse zwischen Moskau und Minsk zugunsten Russlands verschoben. Und es ist Wladimir Putin, der seit langem versucht, Belarus enger an Russland zu binden, und auf die Umsetzung des 1999 geschlossenen Unionsvertrages pocht. Allerdings hat er in Lukaschenka einen geschickten Gegenspieler, dem es bis heute immer wieder gelungen ist, die politische Eigenständigkeit von Belarus zu bewahren und dem ökonomischen und politischen Druck aus Moskau zu trotzen.

Doch der Druck nimmt stetig zu, und es ist ungewiss, wie lange das Land sich noch gegen den "großen Bruder" behaupten kann. Hinzu kommt, dass die lokale Wirtschaft stagniert und der Lebensstandard sinkt. Nach wie vor erwirtschaften Staatsunternehmen 75 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Es gibt kaum ausländische Direktinvestitionen, Russland ist mit Abstand der größte Handelspartner und liefert nahezu 100 Prozent der Energie. Seit einigen Jahren bemüht sich Minsk, sich aus dieser ökonomischen Umklammerung zu befreien, und hat daher seine Wirtschaftsbeziehungen zu China deutlich verstärkt. Peking sieht Belarus im Rahmen der "Belt and Road Initiative" als Türöffner zum Westen und investiert massiv mit Hilfe von Krediten und Bauvorhaben.

Europa sollte dieser Entwicklung nicht tatenlos zuschauen. Seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 hat Lukaschenka wieder verstärkt die Fühler in Richtung Westen ausgestreckt. Gleichwohl sind die Beziehungen zwischen der EU und Belarus alles andere als gut. Hauptgrund dafür sind gravierende rechtsstaatliche und demokratische Defizite sowie das Festhalten an der Todesstrafe - als einziges Land in Europa. Ein bereits 1995 geschlossenes Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen der EU und Belarus wurde deshalb bis heute nicht ratifiziert.

Als Mitglied der russisch dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion ohne Ambitionen auf eine EU-Vollmitgliedschaft nimmt Belarus eine interessante Scharnierfunktion ein. Unterhalb der Schwelle der vollständigen Umsetzung des Abkommens sollte die EU daher die Zusammenarbeit mit Minsk in ausgewählten Bereichen von gegenseitigem Interesse verstärken. Der Handel sollte ausgeweitet werden, ebenso sollte das Engagement der Europäischen Investitionsbank und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ausgebaut werden.

Zentral sind die Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen und die Reform der Staatsunternehmen. Die Diversifizierung der Energieversorgung könnte durch die verstärkte Einbeziehung von Belarus in EU-Pipelines mittels Reverse-Flow gefördert werden. Auch bei Grenzkontrollen und Migrationsfragen ist mehr Kooperation denkbar - schließlich teilt die EU eine lange Außengrenze mit Belarus.

Wesentlich leichter sollte es der EU fallen, den Austausch von Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern durch Stipendienprogramme mehr zu fördern. Visaerleichterungen insbesondere für junge Menschen sollten gewährt werden. Ebenso können Städtepartnerschaften und der zivilgesellschaftliche Austausch den Dialog auch über Werte voranbringen.

Erste Schritte in diese Richtung wurden bereits unternommen. So haben Berlin und Minsk Ende vergangenen Jahres die Einsetzung einer Strategischen Beratergruppe vereinbart. Aufgabe dieses Gremiums ist es, im vertraulichen Rahmen Ziele für den Ausbau der Beziehungen zwischen beiden Ländern zu erarbeiten sowie konkrete Projekte zur Erreichung dieser Ziele zu definieren.

75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der durch deutsche Schuld unermessliches Leid auch und gerade für die Menschen in Belarus gebracht hat, und 30 Jahre nach der Charta von Paris, die Demokratie und Menschenrechte, aber auch die territoriale Integrität der europäischen Staaten garantiert, liegt es an uns, unserer Verantwortung für Belarus gerecht zu werden.

Nils Schmid, MdB, ist außenpolitischer Sprecher der SPD. Dirk Wiese, MdB, ist Koordinator der Bundesregierung für Russland, die Länder der Östlichen Partnerschaft und Zentralasien.