Nils Schmids Kampf um die Freiheit der kurdischen Politikerin Gülser Yildirim

Parlamentarier schützen Parlamentarier

Die Corona-Krise hat die Lage für inhaftierte Oppositionelle in türkischen Gefängnissen noch einmal schwieriger gemacht, berichtet der Bundestagsabgeordnete Dr. Nils Schmid (SPD), der sich für Gülser Yildirim, inhaftierte Abgeordnete in der Türkei, einsetzt.

Das Niveau des Gesundheitsschutzes sei äußerst gering, die hygienischen Zustände beunruhigend, sagt der Abgeordnete aus Reutlingen, der von 2011 bis 2016 Wirtschafts- und Finanzminister in Baden-Württemberg war. Zur Entlastung der übervollen Haftanstalten habe die türkische Regierung kürzlich eine Amnestie beschlossen. Die erstrecke sich allerdings nicht auf politische Gefangene.

Oppositionelle seien zu einer doppelten Risikogruppe geworden. Zur politischen Verfolgung komme hinzu, dass diese, körperlich geschwächt durch die Haftumgebung, noch eine leichte Zielscheibe für das Coronavirus abgäben. Nils Schmid will helfen, Yildirim aus dem Gefängnis herauszubekommen und zu rehabilitieren. „Der Kampf um ihre Freilassung geht weiter“, versichert er, auch wenn dabei noch einige Schwierigkeiten zu überwinden seien.

„Seit 2016 zu Unrecht in Haft“

Die 57-jährige Politikerin der kurdischen HDP-Partei war im November 2016 festgenommen und von der Staatsanwaltschaft angeklagt worden. Sie musste ihr Mandat abgeben und sitzt seitdem in Haft. Noch in der vorigen Wahlperiode des Bundestages hatten mehrere Bundestagsabgeordnete sich kurzerhand entschlossen, sich um zwölf HDP-Abgeordnete zu kümmern, die nach der Parlamentswahl in der Türkei von den dortigen Behörden aus politischen Gründen inhaftiert wurden und sich vor Gericht verantworten müssen. Die türkischen Politiker wurden in das Patenschaftsprogramm des Deutschen Bundestages „Parlamentarier schützen Parlamentarier“ (PsP) aufgenommen, in dem sich Abgeordnete aller Fraktionen für politisch verfolgte Kolleginnen und Kollegen und Menschenrechtsverteidiger weltweit einsetzen können.

„Gewählte Abgeordnete gehören nicht ins Gefängnis“

„Gewählte Abgeordnete gehören ins Parlament und nicht ins Gefängnis“, stellt Schmid klar. „Darum helfe ich Gülser Yildirim.“ Zudem wolle er auf die Situation der Kurden und die politischen Verhältnisse in der Türkei aufmerksam machen sowie den Weg zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit dort unterstützen.

„Die Menschen in den Kurdengebieten müssen die Möglichkeit haben, ihren Willen als Bürger der Türkei durch gewählte Abgeordnete zu artikulieren.“ Kurdischen Abgeordneten dürfe durch eine überzogene Strafverfolgung und die Aberkennung ihres Mandats nicht die Möglichkeit genommen werden, im Parlament mitzuarbeiten. „Politische Teilhabe, durch das Parlament ist der Schlüssel zu friedlicher Entwicklung und hilft mit, dem Terrorismus den Boden zu entziehen“, sagt Schmid. Dränge man dagegen ethnische Minderheiten an den Rand, bewirke dies das Gegenteil.

Terrorismusvorwürfe

Im Fall von Gülser Yildirim spiegele sich die ganze Problematik um die Kurden in der Türkei und die scharfe Konfrontation der politischen Kräfte. Seit Staatspräsident Erdoğan von den Friedensgesprächen mit den Kurden wieder abgerückt und zu einer Politik der Konfrontation übergegangen sei und mit seiner alles überwölbenden Antiterrorpolitik und mit Verfassungsänderungen das Land zu einem autoritären Staat umzubauen versuche, gerieten Oppositionelle, zumal aus den Kurdenregionen und der HDP, bei den türkischen Behörden schnell unter Terrorverdacht, erklärt der Außenpolitiker und Türkei-Kenner Schmid.

Vorgeworfen werde Yildirim Volksverhetzung, berichtet Schmid. Sie soll zudem Propaganda für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK gemacht haben, die unter anderem in der Türkei und in Deutschland als Terrororganisation eingestuft ist. Die Anklage stütze sich dabei ausschließlich auf Aussagen, die Yildirim bereits in den vergangenen Jahren, vor ihrer Wiederwahl als Abgeordnete, gemacht habe.

Die Strafverfolgung von Oppositionellen mit der Begründung der Terrorabwehr sei mittlerweile ein wiederkehrendes Muster der türkischen Behörden, so Schmid, mit der diese politisch unliebsame Parlamentarier kaltstellen wollten. Viel zu weit sei die Antiterror-Gesetzgebung in der Türkei gefasst, mit einer äußerst ungenauen Definition des Terrorismus, sodass die Regierung darunter alle möglichen Taten verfolgen könne, die ihr politisch nicht passten. Ein weiteres Problem sei die Praxis der Anklage, Terrorgefahr oft mit den Kurden und kurdischen Aktivisten zu verknüpfen.

„Parlamentarismus in der Türkei wird ausgehebelt“

Durch die ausufernde und alle Politikfelder und Lebensbereiche vereinnahmende Antiterrorpolitik der Regierung, den autoritären Regierungsstil Erdogans und die in dessen Sinn geänderte Verfassung werde der Parlamentarismus in der Türkei massiv geschwächt.

Das Wahlergebnis sei dadurch untergraben worden, dass man zwölf Oppositionellen der HDP auf einmal das Mandat streitig gemacht habe. Dennoch seien auch bei den letzten Wahlen wiederum HDP-Politiker ins Parlament gewählt worden.

Schmid: „Der Abbau von Freiheiten, die Verschärfung der Strafverfolgung, das Anprangern der HDPler, die Kriminalisierung dieser Partei und ihrer Abgeordneten: Das alles ist Erdoğans Sprache, Ausdruck seines autoritären Kurses.“ Dabei müsse es genau umgekehrt laufen: Mehr politische Beteiligung über das Parlament, Pluralismus, stehe für eine Lösung von Konflikten. „Der Kurdenkonflikt muss politisch gelöst werden“, fordert der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion.

Einer bedrängten Kollegin in der Türkei, die trotz demokratisch gewonnener Wahl ihr Mandat nicht ausüben dürfe, zu helfen, ihr Recht wahrzunehmen, sei für ihn wesentliche Motivation gewesen, Yildirim zu unterstützen, so Schmid. Das versteht der SPD-Politiker über den Einzelfall hinaus als grundlegend für die deutsch-türkische Zusammenarbeit und die deutsche Außenpolitik insgesamt, die sich der Einhaltung und Durchsetzung der Menschenrechte, von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verschrieben habe. Und als einen selbstverständlichen Arbeitsauftrag an ihn als Parlamentarier, für seine internationale Arbeit.

„Starke Parlamente tragen zum Frieden bei“

Parlamente seien je nach ihrer verfassungsrechtlichen Stellung ein mehr oder weniger starker Mitspieler in der internationalen Politik, neben den Regierungen. „Wir wollen Kolleginnen und Kollegen weltweit ermutigen mitzumachen, und solchen, die daran gehindert werden, helfen.“ Sich in die internationale Politik einzubringen und für die Menschenrechte einzutreten, das wollten er und viele andere Abgeordnete des Deutschen Bundestages beispielhaft vorleben. So gut wie alle Gremien des Hauses seien mit internationalen Fragen befasst. Das PsP-Programm sei eine wesentliche Ergänzung, um in einzelnen Fällen jenseits der diplomatischen Beziehungen zu helfen.

„Unsere Erfahrungen und Möglichkeiten wollen wir mit anderen teilen“, sagt Schmid und unterstreicht den „Wert gewählter Parlamente“ für die internationale Zusammenarbeit und die Krisenprävention und Konfliktbeilegung. „Parlamente sollten überall in ihrer Rolle gestärkt werden.“ Starke Parlamente trügen maßgeblich zur Entwicklung und zum Frieden bei. Gerade in Ländern mit inneren Konflikten könnten Parlamente als Foren des Austauschs und der Verständigung eine wichtige Rolle spielen. Da werde dem Meinungsstreit eine friedliche, legale Form gegeben, betont der Abgeordnete. Daher setzten er und viele andere Kolleginnen und Kollegen im Bundestag sich für die freie Mandatsausübung ein, egal wo auf der Welt.

„Türkei ein wichtiges Partnerland“

Hinzu komme: Die Türkei sei ein wichtiges europäisches Nachbarland, seit Jahrzehnten assoziiert mit der Europäischen Union, Mitglied im Europarat und der Nato und insbesondere mit Deutschland wirtschaftlich und gesellschaftlich eng verflochten. Das Land erfülle alle Kriterien eines wichtigen außenpolitischen Partners. „Es kann uns daher nicht gleichgültig sein, was in der Türkei passiert.“

Die Annäherung an die EU gehöre nach wie vor zum offiziellen politischen Programm in Ankara sowie auch in Brüssel. Das Land müsse sich daher an europäischen Maßstäben und Werten messen lassen. Umgekehrt müsse aber Deutschland sich „mit der Türkei auseinandersetzen, so wie sie ist“.

Allerdings: „Die Taten der Regierung in Ankara sind momentan nicht auf einen Beitritt zur EU ausgerichtet“, gibt Schmid zu bedenken. Für Erdoğan stehe der Machterhalt ganz vorne auf der Agenda. Seine diesem Zweck dienende Antiterrorpolitik sei mittlerweile zu einem Dauerproblem in den deutsch-türkischen Beziehungen geworden.

Hilfe als Bundestagsabgeordneter

Nils Schmid nimmt sich einen Teil seiner Zeit als Abgeordneter, um Gülser Yildirim zu unterstützen. Das bedeute vor allem, Ansprechpartner zu sein für sie und Angehörige und sie zu ermutigen. Außerdem gehe es darum, Informationen beispielsweise über die Haftbedingungen zu sammeln, sich ein Bild der Lage zu machen und sich bei den türkischen Verantwortlichen dafür einzusetzen, dass Yildirim Gelegenheit gegeben wird, die gegen sie erhobenen Vorwürfe in einem rechtsstaatlichen Verfahren zu widerlegen, sodass sie so bald wie möglich die Haftanstalt verlassen kann.

Schmid steht nach eigener Aussage in Kontakt mit den Anwälten der Politikerin, tauscht sich regelmäßig mit dem Auswärtigen Amt in Berlin, der deutschen Botschaft in der Türkei, aber auch mit Menschenrechtsorganisationen aus, die Yildirim ebenfalls unterstützen. „Als Parlamentarier sind wir etwas freier in unseren Handlungen, können jenseits der Außenpolitik der Regierung und diplomatischer Gepflogenheiten Dinge tun, die aus der Form der offiziellen bilateralen Beziehungen fallen“, beschreibt Schmid Möglichkeiten und Mehrwert der parlamentarischen Unterstützung.

Darüber hinaus gelte es, öffentlich Aufmerksamkeit für den Fall von Gülser Yildirim zu schaffen, um so weitere Unterstützer zu gewinnen und den Behörden in der Türkei zu signalisieren: Wir behalten das, was ihr tut, im Auge, bitte überspannt den Bogen nicht! Dazu trage vor allem auch das PsP-Programm als ein mittlerweile vielbeachtetes und angesehenes Instrument des Deutschen Bundestages bei.

Gefängnisbesuch, Prozessbeobachtung

Er habe Yildirim bislang nicht im Gefängnis besuchen können, bemühe sich aber weiter um einen Termin, betont Schmid. Das sei einerseits ernüchternd und anstrengend. Andererseits aber signalisierten bereits seine schriftlichen Anfragen, Bitten und öffentlichen Statements den Verantwortlichen eine gewisse Nachdrücklichkeit und Präsenz und hielten diese „hoffentlich“ davon ab, Schlimmeres zu tun.

Er werde zudem in Absprache mit der deutschen Botschaft die Möglichkeit der Prozessbeobachtung wahrnehmen, sobald es Verhandlungstermine gebe, die für ihn erreichbar seien. Yilderim selber nehme das ihr widerfahrene Unrecht nicht einfach so hin, sondern setze sich rechtlich zur Wehr. Nach Ausschöpfung aller gerichtlichen Instanzen in ihrem Land werde sie ihren Fall schließlich vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bringen.

Mit dem Urteil des EGMR erhielten dann alle zusätzlich zu der politischen noch eine unabhängige, rechtlich verbindliche Einordnung. Die türkische Justiz könne dann gezwungen sein, ihr Urteil zu korrigieren. Die Türkei sei schließlich Mitglied des Europarates und habe sich der Rechtsprechung des EGMR unterworfen.

(Deutscher Bundestag, 03.08.2020)