Nils Schmid über Verhältnis zu Russland: „Putin sieht in uns einen Gegenspieler“

Die Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union sind so schlecht wie nie zuvor – der Fall Nawalny ist der vorläufige Höhepunkt einer fortschreitenden Entfremdung. Doch wie sollen die Europäer auf das „System Putin“ reagieren? Ein Gastbeitrag von Nils Schmid im Cicero.

„Ich bin überzeugt: Wir schlagen heute eine neue Seite in der Geschichte unserer bilateralen Beziehungen auf und wir leisten damit unseren gemeinsamen Beitrag zum Aufbau des europäischen Hauses.“ Schon fast 20 Jahre sind vergangen, seit Präsident Putin diese Worte an den Bundestag richtete. Nach dem Kalten Krieg und den Jelzin-Jahren lag Hoffnung auf eine partnerschaftliche Zukunft in der Luft – so auch im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes an jenem 25. September 2001, wie die Standing Ovations nach Putins Ansprache zeigten. Zwei Dekaden später ist davon nichts mehr zu spüren. Denn das Fundament unseres europäischen Hauses liegt in Trümmern, und aus dem Osten weht wieder ein eisiger Wind zu uns. 

Wie unter einem Brennglas zeigte der Borrell-Besuch in Moskau, wie wenig Interesse die russische Führung an guten Beziehungen zu uns hat. Es kam zum Eklat, als während des Treffens zwischen dem EU-Außenbeauftragten und dem russischen Außenminister drei Diplomaten aus EU-Ländern des Landes verwiesen wurden. Pure Provokation, die aber wenig überrascht. Denn ein illusionsloser Blick auf unser Verhältnis zu Russland zeigt, dass Putin in uns keinen Partner sieht – sondern einen Gegenspieler. Der Hackerangriff auf das Herz unseres Parlamentarismus, den Deutschen Bundestag, der Tiergartenmord inmitten unserer Hautstadt – alles keine Einzelfälle. Die Machthaber in Moskau gehen so systematisch wie rücksichtlos gegen die vermeintlichen Feinde von innen und außen vor. Davon zeugen auch die völkerrechtswidrige Krim-Annexion und der Krieg im Donbas sowie die Desinformationskampagnen und Giftanschläge, wie zuletzt gegen Alexej Nawalny.

Korrupte Kreml-Clique

Der Umgang mit der Causa Nawalny offenbart die Schwächen des Systems Putin, das zwar stabil, aber auch von Stagnation geprägt ist. Die Wirtschaft schwächelt, da Modernisierung und Diversifizierung verschleppt wurden. Statt Zuversicht für die Zukunft auszustrahlen, verordnet der Staat Verklärung der Vergangenheit und beschwört den permanenten Abwehrkampf gegen vermeintliche Regime-Change-Agenten aus dem Westen. Die „Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit“ – eines der Hauptziele, das Putin im Bundestag für die russische Innenpolitik ausrief – wurde dem Machterhalt der korrupten Kreml-Clique untergeordnet. 

So ist es auch nicht verwunderlich, dass Nawalny nicht wegen eines überzeugenden politischen Programms zum stärksten Oppositionellen wurde, sondern weil er Korruption und Reichtum der Machtelite durch seine Recherchen offenlegt und anprangert, wie mit dem Video über Putins Schwarzmeer-Palast, das über 100 Millionen Mal aufgerufen wurde.

Die Propaganda vom bösen Westen entkräften 

Dass er einen wunden Punkt Putins getroffen hat, zeigten die willkürliche Verurteilung Nawalnys nach dessen Heimkehr und die brutale Repressionen gegen seine Unterstützer. Mit der russischen Führung ist aktuell keine strategische Partnerschaft möglich, trotzdem brauchen wir selektive Kooperation – etwa zur Lösung der Konflikte in der Ukraine, in Syrien und in Libyen sowie bei den Menschheitsaufgaben Klimawandel und Corona-Pandemie.

Und nur gemeinsam geht es weiter bei der nuklearen Abrüstung. Nach der hoffnungsvollen New-Start-Einigung zwischen USA und Russland heißt das nächste Ziel: Erneuerung des Nuklear-Abkommens mit dem Iran. Da wir auf Zusammenarbeit angewiesen sind, sollten wir nicht überstürzt Brücken nach Russland zertrümmern, sondern diese etwa im zivilgesellschaftlichen Bereich sogar weiter ausbauen. Denn die Propaganda vom bösen Westen entkräften wir am erfolgreichsten durch mehr Austausch- und Dialogprogramme. Wir sollten deshalb auch zügig die visafreie Einreise für junge Russinnen und Russen bis 25 Jahren ermöglichen.

Abbruch von Nord Stream 2 würde schaden

Auch der Bauabbruch von Nord Stream 2 würde vor allem uns schaden – ohne dabei Russlands Verhalten zu ändern. Denn die Kassen des Kremls klingeln auch weiter, wenn russisches Gas über andere Pipelines nach Europa fließt, wenn US-Öl-Importe aus Russland weiter ansteigen und nach dem zügigen Aufbau von LNG-Exportkapazitäten das für Nord Stream 2 nicht benötigte Gas als LNG auf die Weltmärkte gebracht wird.

Zum Schutz vor der Kälte müssen wir enger zusammenrücken. Das Putin-Regime verachtet die EU und die Werte von Demokratie und Rechtsstaat, für die sie steht, und es versucht, uns gegeneinander auszuspielen. Unsere Antwort darauf muss noch mehr Einigkeit und Entschlossenheit sein, wie wir sie mit den bis heute geltenden Sanktionen wegen der russischen Aggression gegen die Ukraine bewiesen haben. Wir müssen außerdem mehr europäische Souveränität wagen, etwa durch Einführung von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik, und wir müssen gerade aus Berlin  heraus eine gemeinsame europäische Ostpolitik vorantreiben.  

Mit Joe Biden sitzt wieder ein überzeugter Verteidiger der liberalen Demokratie im Weißen Haus, mit dem wir unsere Russlandpolitik eng abstimmen sollten. Ihm sollten wir auch folgendes Vorgehen zu Nord Stream 2 vorschlagen: Die USA beenden die Sanktionen, die Pipeline wird fertiggestellt, aber erstmal nicht in Betrieb genommen; währenddessen beraten wir über gezielte Russland-Sanktionen, die alle energiepolitischen Kooperationen umfassen können, aber auch Maßnahmen gegen Putins Oligarchen-Clique.

Kein neuer Eiserner Vorhang

Für uns ist aber auch klar, dass wir keinen neuen Eisernen Vorhang wollen und immer wieder Dialogangebote unterbreiten sollten, ohne unsere Werte preiszugeben. Deshalb gilt es, gegenüber der russischen Führung und Gesellschaft klar zu kommunizieren, welche konkreten Vorteile sie von besseren Beziehungen hätten, wie solche Projekte der Partnerschaft aussehen können und welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen. Und wir sollten vorbereitet sein auf Tauwetter, auch wenn gerade wenig darauf hindeutet. Denn die internationale Politik und das Wetter haben eines gemeinsam: Sie sind schwer vorherzusagen.

Und wer weiß, vielleicht wird eines Tages eine deutsche Kommissionspräsidentin in der russischen Staatsduma anbieten, eine neue Seite in der Geschichte der EU-Russland-Beziehungen aufzuschlagen.

Nils Schmid  ist außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Artikel auf Cicero unter https://www.cicero.de/aussenpolitik/spd-nils-schmid-russland-putin-eu